Endlich! Die neuen Gesetze und Aufklärungen zeigen erste Erfolge, so wie in diesem Spiegel Bericht vom Februar 2015:
Hamburg – Am Wochenende wird Suchtberater Christian Nagel häufig in die Notaufnahme der Stuttgarter Kinderklinik gerufen. Mit seinen Kollegen betreut er dort die Minderjährigen, die nicht mehr gehen können, sich erbrechen und von dem vorangegangenen Besäufnis häufig nichts mehr wissen. Diagnose: Alkoholvergiftung.
Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Komasäufer fast verdreifacht. Jahr für Jahr wurden mehr Jugendliche mit einem Vollrausch ins Krankenhaus eingeliefert. Nun zeigen die neuesten Ergebnisse des Statistischen Bundesamts: 2013 sind die Zahlen erstmals rückläufig. Im Vergleich zu 2012 wurden in dem Jahr 13 Prozent weniger Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren mit einem akuten Alkoholmissbrauch im Krankenhaus behandelt.
Verantwortlich für den Rückgang ist vermutlich ein ganzes Maßnahmenpaket, das von bundesweiten Aufklärungskampagnen über strengere Regeln im Elternhaus und Testkäufe bis hin zu einem nächtlichen Verkaufsverbot von Alkohol in Baden-Württemberg reicht.
Insbesondere das Verkaufsverbot ist heftig umstritten: Eine Studie, die im Dezember 2014 online im „Journal of Public Economics“ veröffentlicht wurde, geht der Frage nach, ob es wirkt. Seit März 2010 dürfen baden-württembergische Tankstellen, Supermärkte und Kioske zwischen 22 Uhr und 5 Uhr morgens keinen Alkohol mehr verkaufen. Kritiker hatten befürchtet, dass Jugendliche das Verbot leicht umgehen würden und das Verbot sie erst reizen könnte, Alkohol auszuprobieren. Auch über die Verkaufseinbußen der Tankstellenbetreiber wurde viel diskutiert.
Doch das Verbot trägt zum Rückgang der Alkoholvergiftungen bei, meinen die Studienautoren Jan Marcus vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Thomas Siedler vom Hamburg Center for Health Economics (HCHE). „Seit der Einführung des Alkoholverbots trinken vor allem Jugendliche weniger exzessiv„, sagt Siedler. Das Verbot habe statistisch gesehen 444 Jugendliche und 288 junge Erwachsene vor einer Alkoholvergiftung allein in den 22 Monaten nach der Einführung bewahrt, schreiben die Autoren.
Für ihre Analysen haben die Wissenschaftler die Zahl der Krankenhauseinlieferungen aufgrund der Diagnose „akuter Alkoholrausch“ in Baden-Württemberg mit drei Kontrollgruppen verglichen: mit Gesamtdeutschland, den angrenzenden Bundesländern Bayern und Hessen und einer Gruppe aus speziell ausgewählten Krankenhäusern. Demnach hat das Verbot einen signifikanten Effekt auf die 15- bis 24-Jährigen, so die Autoren. Die Zahl der Alkoholvergiftungen sei in dieser Altersgruppe um sieben Prozent gesunken. Auf ältere Erwachsene hat das Verkaufsverbot keinen nachweisbaren Effekt.
Siedler schätzt, dass der Effekt des Verbots noch wesentlich höher liegt, denn der ausgewertete Datensatz berücksichtigt lediglich die Erstdiagnose. Wird ein alkoholvergifteter Patient vorrangig wegen einer Kopfverletzung oder einem gebrochenen Bein behandelt, fällt er aus der Analyse heraus.
SPIEGEL ONLINEWann kommen die meisten alkoholvergifteten Jugendlichen ins Krankenhaus? Aufgegliedert nach Wochentag
Die Forscher haben außerdem die Zahlen eines großen Krankenhauses ausgewertet, um dem generellen Trinkverhalten der jungen Menschen auf die Spur zu kommen. Demnach bekommen Suchtberater Nagel und seine Kollegen samstags um zwölf Uhr nachts in der Regel am meisten zu tun. Denn dann werden die meisten Jugendlichen mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert:
SPIEGEL ONLINEWann kommen die meisten alkoholvergifteten Jugendlichen ins Krankenhaus? Aufgegliedert nach Uhrzeit
Bewusste Rauschplanung
Das Verbot hindert Jugendliche und junge Erwachsene nicht zwangsläufig daran, Alkohol zu trinken. Weil die Jugendlichen ab 22 Uhr aber keinen Nachschub mehr bekommen, müssten sie ihren Rausch jetzt bewusster planen, sagt Suchtexperte Nagel: „Das verringert das Risiko, dass die Gesamtsituation entgleitet.“ Mit dem Verkaufsverbot an Tankstellen ist für Jugendliche die letzte Nachschubquelle für Alkohol weggefallen. Sie könnten zwar auf Gaststätten ausweichen, doch dort seien die Kontrollen wesentlich strenger und der Alkohol zudem teurer, sagt Nagel.
Die Krankenkassen sehen die steigende Zahl der Komasäufer schon lange mit Sorge. Die Erstbehandlung eines Komasäufers kostete im vergangenen Jahr durchschnittlich 659 Euro, teilte die Techniker Krankenkasse (TK) auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mit. Folgeuntersuchungen sind darin noch nicht berücksichtigt. Im vergangenen Jahr wurden allein unter den Versicherten der TK 2255 Personen bis zum Alter von 20 Jahren mit der Diagnose „akuter Rausch“ in einer Klinik behandelt. Die Kosten für die jugendlichen Komasäufer summierten sich so auf rund anderthalb Millionen Euro.
Umgekehrt hat das Alkoholverbot den Krankenkassen viel Geld gespart: Multipliziert man die Zahl der verhinderten Alkoholvergiftungen mit den aktuellen Einzelfallkosten, haben die Kassen allein in den 22 Monaten nach Einführung des Verkaufsverbots rund 480.000 Euro für Notfallbehandlungen gespart – dazu kommen die Kosten für Folgetherapien.